Über die Wandlungen der Lebenspfade
Von der Beschwerlichkeit eines Weges
Im Leben kommt es häufig vor, dass wir Wege immer wieder gehen.
Sie werden zu einem Teil unseres Daseins, begleiten uns durch die Jahreszeiten und manchmal vollziehen sie auch einen Wandel, indem sie vollkommen ihre Natur verändern.
Als ich das erste Mal den Kōdō Tempel in Yokohama mit meiner Frau, damals noch Freundin, besuchte, war mir absolut unklar, dass dieser Weg dorthin von diesem Zeitpunkt an, ein fester Teil meines Lebens sein würde oder ich ihn in nicht allzu ferner Zukunft nur noch ganz allein beschreiten sollte, geschweige denn in tiefer Trauer, um die letzte Ruhestätte meiner geliebten Frau und meiner Schwiegermutter zu besuchen, die mich beide einst mit an diesen Ort genommen hatten, der für sie stets die tiefste Bedeutung hatte.
Ein Ort der Gebete und Opfergaben.
Sobald wir den ansteigenden Weg auf den Tempelberg geschafft hatten, begann das Ritual: einer Verbeugung vor dem obersten Gebäude namens Nōkotsudō 納骨堂 oder Kolumbarium, weil dort die Urnen der aus diesem Leben Geschiedenen ruhen, und einer Verbeugung vor dem Hauptgebäude mit seiner großen Halle und dem Hauptaltar des Tempels, der Buddha Halle.
Dann ging es eine Treppe hinunter, in das Gebäude und einige Treppen hoch in das Kolumbarium, in welches man mit einer weiteren Verbeugung eintrat und dann nach oben zur Stelle mit den Urnen zu gehen.
Manchmal opfert man auf dem Alter in der Mitte dieses Raumes auch Weihrauch, in dem man diese pulverisierte Variante der Räucherstäubchen zweimal zwischen zwei Finger nimmt, an den Kopf führt und dann auf das durch Holzkohle erhitzte Metallplättchen legt, und eine erneute Verbeugung abschließt.
Dieser Ort stellt die letzte Ruhestätte des Tempels dar, der keinen Friedhof hat, wie sonst in Japan üblich, unter freiem Himmel und mit Steingrabstätten, sondern mit Terrassenförmigen Schränken, in den jeweils mehrere Urnen Platz finden.
Vor der Urnenstelle der Ahnen, die durch Namenstafeln, sogenannte Ihai 位牌, auf den der buddhistische Name oder der menschliche Name steht, opfert man Blumen, Sake oder etwas das der Verstorbene mochte und führt Gebete aus, insbesondere das Hauptmantra Namu Myōhō Renge Kyō, welches verschiedene buddhistische Richtungen verwenden, wie auch dieser Tempel.
Dabei faltet man die Hände vor dem Kopf, öffnet und schließt sie zweimal im Verbeugen und dann ein drittes Mal mit geschlossenen Händen im Gebet.
Als Abschluss wird noch einen Moment verweilt, vielleicht eine Geschichte des jeweiligen Ahnen geteilt oder sich im Stillen erinnert.
Dann wird eine weitere Urnenstelle aufgesucht oder sich auf den Weg hinab gemacht, nachdem eine erneute Verbeugung mit gefalteten Händen den Besuch in dieser Ruhestätte abschließt.
Über dieser Halle ruht eine bedeutsame Reliquie: ein sehr kleines Stück Knochen von Siddhartha Gautama, dem Buddha selbst, eingefasst in eine luftdichte Hülle.
Aber dieser oberste Raum des Gebäudes wird nur einmal im Jahr geöffnet.
Unten angekommen geht es zwei große Treppen hinauf in die große Buddha Halle, wo das Rezitieren eines langen Mantras mit dem Ritual des Gebets wie oben beschrieben und mit dem Namu Myōhō Renge Kyō als Anfang und Abschluss.
Nach einer weiteren Verbeugung vor dem Hauptaltar geht es wieder zurück in den unteren Bereich, die große Eingangshalle des Tempels.
Diesen Wegen folgte ich gemeinsam mit meiner Frau über viele Jahre, anfangs ihre Rituale nachahmend, als sei ich ihr Schüler und werde auf die Zukunft vorbereitet, bis ich es verinnerlicht habe, was auch geschah.
Meine liebe Frau selbst musste diesen Weg unzählige Male beschritten haben.
Es war ihr existenziell wichtig, weshalb sie mich recht bald nach unserem Kennenlernen mit in den Tempel nahm.
Oft traf sich die gesamte Familie dort zu Obon, des Seelen- und Ahnenfestes im August oder an Neujahr.
Dieser Tempel war auch ihre letzte Arbeitsstätte bis weit vor ihrer Krankheit und aus einer unglücklichen Situation heraus, die sie nie wieder zurückkehren ließ, was im Nachhinein sehr eigentümlich, ja bitter erscheint, jedoch irgendwie auch Sinn macht.
Erst nachdem sie aus diesem Leben entschlafen war, wurde auch für sie und ihre Mutter der Nōkotsudō oder Kolumbarium zur Ruhestätte, die ich nun allein aufsuchen muss, um für die beiden Gebete und Gaben zu opfern und für mich einen Ort der Trauer zu finden.
Aber selbst beinahe drei Jahre (bzw. mittlerweile vier, in der Veröffentlichung dieses Eintrages) nachdem das passiert ist, bedeutet dieser Weg eine tiefe seelische Beschwerlichkeit, die ich kaum fassen kann oder wahrhaben will.
Und doch gehe ich ihn tapfer, die Rituale meiner Frau nachahmend, immer wieder auf ein Neues, doch nicht minder verzweifelnd und traurig, weil mir die Situation wie etwas aus einer Parallelwelt erscheint.
Ein Alptraum aus dem ich nur noch aufwachen möchte!
Die Wandlung des Weges hat eine Form angenommen, die ich niemals, zu keinem Zeitpunkt unseres und meines früheren Lebens für möglich gehalten habe.
Was allerdings bleibt mir anderes als diesen Weg zu beschreiten?!
Denn wenn ich eins gelernt habe seit den anfänglichen Begleitungen, dann seine Bedeutsamkeit, Notwendigkeit und Wichtigkeit für meine Frau, ihre Mutter und unsere Familie.
Die Rituale in der Trauer sind im Buddhismus tief verwurzelt, sie ehren die Ahnen und ihre Seelen, helfen den Verbliebenen und geben ihnen Halt.
Die Gebete und Opferungen sind Nahrung für die Seelen, heilen sowohl sie als auch uns Menschen, in dem der Bund miteinander immer wieder aufs Neue entfacht, gestärkt und lebendig gehalten wird.
Dies reicht bis weit in unseren Haushalt hinein, auf den Altar, vor und auf dem ebenfalls gebetet und geopfert wird.
Auch hier gibt es viele Rituale, wie das Reinigen mit einem Stein und Metallbeschlag, in dem man mit ihnen Funken schlägt, das Opfern von Wasser, Sake, Reis und Anzünden von Räucherstäbchen, mit Gebeten und Gesängen.
Ein täglicher Weg in der Trauer, ein Ort der Stille und Meditation, allein und doch in tiefer Verbundenheit und Liebe.
Der Gang in den Tempel ist auch eine Nachfolge der Wege meiner Frau.
Ich folge ihr nach, begehe ihre Wege immer wieder und halte ihr Andenken damit lebendig.
Auch ich nehme nun Besucher mit auf diesen Weg, führe die Rituale aus, wie ich sie von meiner Frau gelernt habe und spüre förmlich, wie sie in mir erwacht und mich führt.
Und so eröffnet sie mir weiterhin neue Wege:
Ein Priester des Tempels, mit dem ich in der Trauerzeit mehrfach ins Gespräch gekommen bin, wurde zu einem getreuen Begleiter, mir in seiner Offenheit viel Trost, Einsichten und Klarheit im Dialog schenkend.
Das Andenken meiner Lieben im Tempel ist lebendig und immer wieder gibt es in Begegnungen auch Augenblicke, in denen ich derjenige sein muss, der es neu entfacht.
Auch wenn es unendlich schwer für mich ist und ich kaum in der Lage dazu bin, denn es ist keine Rolle, nach der ich mich sehne, sondern eher fürchte.
Auch andere Wege, die ich sonst gemeinsam mit meiner Frau gehen konnte, warten nun damit auf, wie lauernde Schatten, die hinter allem liegen und denen ich mich nicht verweigern kann.
Wie kann sich ein Weg so fundamental wandeln?
Ich frage mich oft, ob ich ihm gefolgt wäre, wenn all das Kommende bereits offen vor mir ausgebreitet gewesen wäre im Augenblick da ich den ersten Schritt machte, was natürlich unmöglich ist, da uns Menschen die Gabe der Voraussicht wohl richtigerweise verwehrt ist.
Aber einmal angenommen!
Es gibt so viele Wege und erste Schritte, aber jener in den Tempel scheint der bedeutungsschwerste, auch weil andere Wege nur einmal oder wenige Male in Erscheinung traten, wohl auch weil er ein essenzieller Lebensweg war, der einem Ritual gleich begangen wurde.
Die Antwort fällt mir nicht schwer, sodass die Frage selbst völlig unbedeutend zu werden scheint, gar nichtig:
Jeder Weg, der mich zu meiner innig geliebten Frau geführt hat, in unser wundervolles gemeinsames Leben und die kostbare Zeit zusammen, die wie eine wundersame Gabe Gottes erscheint und ist, würde ich immer und immer wieder gehen. Auch wenn sie in das Unweigerliche führen, welches ich als Mensch dennoch beklage und niemals akzeptieren werde.
Aber der Weg brachte uns zusammen und hinterließ mir unendlich viele kostbare Erfahrungen.
Es heißt, dass Trauer nur durch Dankbarkeit geheilt werden kann.
Und dankbar bin ich über allen Maßen und darüber hinaus.
Also mache ich mich immer wieder auf diesen Weg, der sich von Grund auf gewandelt hat, beschwerlich geworden ist und lade andere ein ihn mit mir gemeinsam zu gehen.
Denn es ist ein durch Liebe empfangener und gefestigter Weg, dies ist er, trotz all der Wandlungen und Beschwerlichkeiten geblieben, von seinem Anfang, durch die Veränderungen, bis an sein Ende, welches mir noch verborgen ist.
Werde ich in der Lage sein diesen Weg auch für unsere kommenden Generationen zu befestigen, auf dass er zum Pilgerweg wird?
Dies ist die Essenz dieses Weges, den schon viele vor uns beschritten haben.
Im Leben kommt es häufig vor, dass wir Wege immer wieder gehen. Sie werden zu einem Teil unseres Daseins, begleiten uns durch die Jahreszeiten und manchmal vollziehen sie auch einen Wandel, indem sie vollkommen ihre Natur verändern.
Die Essenz des Weges jedoch bleibt, dämmert es mir im Verfassen dieser Zeilen:
Die Liebe meiner Frau hat mich auf diesen Weg in den Tempel geführt, durch seine tragische Wandlung hindurch und über seine verzweifelnde Beschwerlichkeit hinaus.
Das soll bleiben und weitergetragen werden.
Und darum bitte ich…
R. Rehahn, 20.02.2023
Links
- „Heimkehr, O-Bon und Trauerrituale“ im SPUREN | MAGAZIN: https://magazin.spurenkreis.net/auf-dem-lande-in-japan/
- „Obon“: https://de.wikipedia.org/wiki/Obon
- „Kōdō Tempel“: https://kodosan.or.jp/
- „Kolumbarium“: https://de.wikipedia.org/wiki/Kolumbarium
- Gespräche im Tempel: https://journal.spurenkreis.net/ein-tempelbesuch-vor-dem-jahresende/